Sonntag, 7. September 2008

Alltag: Ein Sonntag im Park...

... bedeutet in China nicht nur, am Ufer eines Sees spazieren zu gehen, Sport zu treiben oder sich zwischen Bäumen auf einer Bank auszuruhen. Zu beobachten im Heping-Park: Dort kann man nicht nur lauthals Karaoke singen und an Wurfständen Plüschtiere gewinnen. Es gibt auch ein Kinderkarussel und Tretboote, um über den Teich zu fahren. Beides inklusive kleiner Plastikmaschinengewehre, aus welchen man sich mit Wasser bespritzen kann. Ganz entspannt.

Samstag, 6. September 2008

Exkursion: Touristen-Tempel


Das Kloster der Seelenzuflucht bei Hangzhou zählt zu den zehn berühmtesten Chinas. Seine Gründung wird auf einen indischen Mönch namens Huili in das Jahr 326 zurückgeführt. Die riesige Anlage, die bis zum 10. Jahrhundert 300 Gebäude umfasste, in denen 3000 Mönche lebten, wurde während des Taiping-Aufstandes in den Jahren 1851-1864 völlig zerstört.
Heute ist das Zen-Kloster wieder aufgebaut und erfreut sich - mit Segen der chinesischen Regierung- regen touristischen Andrangs. Wer im Tempel Ruhe finden will, muss sich aus diesem Grunde allerdings zuerst seinen Weg vorbeibahnen an langen Warteschlangen vor den Kassen, unzähligen Verkaufs-Ständen, welche mal mehr, mal weniger religiöse Artikel anbieten, Imbissbuden und von Regenschirmen und Fahnen angeführten Reisegruppen.
Über dem Tor des Tempels, für den man noch einmal Extra-Eintritt bezahlt, wirbt eine neonbunte Lichtreklame für die religiöse Erleuchtung. In seinem Inneren dann endlich - Stille.

Freitag, 5. September 2008

Vortrag: “Brechts Verhaltenslehren”

Den zweiten Vortrag im Verlaufe des Workshops hielt Professor Dr. Thomas Weitin.
In den 1920er Jahren begann Brecht, Material für ein “Büchlein mit Verhaltenslehren” zu sammeln, für das er den Titel "Me-ti" wählte - nach dem auch Mo Di genannten sozialkritischen chinesischen Philosophen aus dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeit. Chinesisches Denken spielte zu der Zeit, da er die Theorie des epischen Theaters entwickelte, eine zentrale Rolle für Brecht, welcher das Chinesische als Deckmantel nutzte, um Kritik an seiner eigenen Zeit zu formulieren.
In seinem Vortrag behandelte Prof. Weitin den doppelten rhetorischen Gestus, der dabei zum Ausdruck kommt. Brecht habe das Chinesische einerseits genutzt, um seine theoretischen Gedanken historisch zu authentisieren, den China-Bezug gleichzeitig aber deutlich als Konstruktion ausgestellt - etwa indem er das Land konsequent mit “m” schrieb. “Chima” sei damit zur Signatur einer Fremdheit geworden, mit der sich das Theater der Verfremdung habe theoretisch darstellen können. Im Zusammenhang mit Brechts Exilerfahrungen lasse sich diese Rhetorik der Fremdheit auch als eine spezifische Haltung zur Großstadt und zur Moderne lesen.

Der Vortrag als Video

Teil 1:


Teil 2:


Teil 3:

Vortrag: “Sprachkultur im Deutschen und Chinesischen”

vortrag-zhu

Mit seinem Vortrag über chinesisch-deutsche Sprachgepflogenheiten und -Traditionen eröffnete Professor Dr. Zhu Jianhua von der Fakultät für deutsche Sprache an der Tongji-Universität am vergangenen Freitag den dreitägigen Workshop in Hangzhou.

Einleitend verwies Professor Zhu auf die philosophischen Wurzeln chinesischer und deutscher Sprachkultur und unterzog sie einem pointierten Vergleich.
Während China vor allem durch die Denkweisen des Daoismus und des Konfuzianismus geprägt sei, die dem Schweigen Hochachtung zukommen lassen, stehe Europa in der Tradition der klassischen griechischen Philosphie, welche dem Reden eine prominente Bedeutung zuschreibe.
Der Daoismus sei eine Philosophie des Nichts-Tuns, die es ablehne, in die Umwelt einzugreifen. Im Daoismus heiße es: “Dao ist Schweigen, schweigen ist Gold.” oder: “Wer weiß, spricht nicht, wer spricht, weiß nichts.”
Der Konfuzianismus, welcher eine zweite traditionelle Wurzel für die chinesische Denkweise darstelle,
Setze sich demgegenüber zwar die Optimierung der Umwelt zum Ziel, strebe aber auch vor diesem Hintergrund stets Harmonie an. Gutes Handeln und Gutes Sprechen werden hier als eins, als Einheit verstanden, die Sprache diene als Werkzeug zur Förderung der harmonischen Beziehungen. Sprechen oder Nicht-Sprechen gelte dabei auch als Signal für die eigene gesellschaftliche Stellung. Nur vor Freunden spreche man viel, sonst kehre man sein wissen nicht unangemessen hervor. “Große Weisheit erscheint als große Dummheit” Mit Nicht-Gleichgesinnten solle man schweigen und nicht streiten.
Sprechen, so lasse sich für die Philosophie des Konfuzianismus resümieren, werde als passives Handeln begriffen.
Ganz im Gegensatz zu diesen Ansichten des Konfuzianismus und Daoismus stehe die altgriechische Philosophie, in welcher die Sprache so wichtig sei wie Gott, ja Sprache selbst göttlich sei. Weil das aktive Sprechen das Streben nach Wahrheit kennzeichnete, bemühten sich alle Philosophen zeitlebens, ihre Sprachkunst, die Rhetorik, zu perfektionieren. Der Akt des Redens wurde im Sinne aktiven Handelns positiv verstanden.
Während also der Daoismus das Ideal vertrete nicht zu denken, nicht sprechen und nicht zu handeln, stehe der Konfuzianismus für die Idee passiv zu denken, passiv zu sprechen und passiv zu handeln während die altgriechische Philosophie danach strebe, aktiv zu denken, aktiv zu sprechen und aktiv zu handeln.
So schweigen die Chinesen im Unterricht tendenziell lieber weil der Lehrer das Wort hat, sprechen stets durch die Blume, tun immer nur 50 Prozent ihres Wissens kund weil sie auf ihre Umgebung ausgerichtet sind und vermeiden möchten, unter Umständen andere durch ihren großen Wissensvorsprung zu beschämen, während es die Europäer gewohnt sind, immer alles direkt auszusprechen, weniger Gespür für ihre Umgebung besitzen und gern 120 Prozent ihres Wissens aussprechen, um vor den anderen ihre Klugheit zu zeigen.
Professor Dr. Zhus abschließende Fragen: Werden sich diese Klischees auch angesichts der Globalisierung und der sich aus ihr ergebenden Begegnungen unserer Sprachkulturen weiter erhalten? Oder wird die Informationsgesellschaft vielmehr dazu beitragen, dass sich unsere Gepflogenheiten und Bräuche langfristig ergänzen und miteinander verschmelzen werden?

Busfahren auf Chinesisch (2)

Eine weitere Fahrt mit Hindernissen: Fast wären wir wieder unter einer Brücke stecken geblieben (siehe Video).
Haben inzwischen den Verdacht, dass der Busfahrer möglicherweise nicht lesen kann und darum nie den Weg weiß. Immerhin war dieses Mal seine Frau dabei. Er hat darauf bestanden, sie mitzunehmen.
Hat leider auch keine Verbesserung gebracht.

Donnerstag, 4. September 2008

Seminar: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

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Wie lässt sich das Gefühl der Fremdheit in einer großen Stadt darstellen?
Brechts “Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny” wählt dafür die Mittel des epischen Theaters. Mahagonny, die “Netzestadt”, liegt an keinem bestimmten Ort. Die Geschichte über den Aufstieg und die Zerstörung einer Dienstleistungsmetropole könnte überall spielen. Sie erzählt von einer Gesellschaft, die sich aufgibt, damit die Bedürfnisse des Einzelnen rücksichtslos befriedigt werden können. Alles ist erlaubt, nur kein Geld zu haben, gilt als Verbrechen. Wie aktuell diese Geschichte für die junge Generation im heutigen China ist, wurde in der Seminardiskussion rasch deutlich. Zunächst gab Professor Weitin einen Überblick über die Geschichte des Theaters in Deutschland und erläuterte die spezifischen Merkmale von Brechts theatraler Verfremdung. Dieser Begriff spielte in der anschließenden Textanalyse die zentrale Rolle. Thematisch vertieft wurden bei der gemeinsamen Lektüre die Begriffe “Ordnung”, “Geld” und “Religion”.


[…] Ihr bekommt leichter das Gold von Männern als das von Flüssen!
Darum laßt uns hier eine Stadt gründen
Und sie nennen Mahagonny
Das heißt: Netzestadt!
Sie soll sein wie ein Netz
Das für die eßbaren Vögel gestellt wird.
Überall gibt es Mühe und Arbeit
Aber hier gibt es Spaß.
Denn es ist die Wollust der Männer
Nicht zu leiden und alles zu dürfen.
Das ist der Kern des Goldes.
Gin und Whisky
Mädchen und Knaben.
Und eine Woche ist hier: sieben Tage ohne
Arbeit
Und die großen Taifune kommen nicht bis
hierher.


Auszug aus: Bertolt Brecht, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In: Bertold Brecht, Stücke. Band 2, Berlin, Seite 171.

Harte Schule

soldaten
Das erste Studiensemester bedeutet in China eine harte körperliche Herausforderung. Jedoch nicht, weil wie in Deutschland lange Partynächte, von der Fachschaft organisierte Kennenlern-Tage und Orientierungswochen voller Kneipenbesuche auf dem Programm stehen. Sondern zwei bis vier Wochen militärisches Training.

In Uniformen gekleidet muss jeder neue Unijahrgang täglich im Gleichschritt rennen und marschieren, mitten in der Nacht lange Wanderungen machen oder zum Ausdauerlauf antreten. Hinter ihrer Truppe sei damals ein Wagen hergefahren, der jene eingesammelt habe, die vor Anstrengung zusammengebrochen seien, so hat mir eine unserer Studentinnen erzählt. Elterbesuch ist während der kräfteraubenden Ausbildung nicht erwünscht, ebenso wenig, dass die Stundenten über das Wochenende nach Hause fahren.
Der Drill hat keinen militärischen Hintergrund - vielmehr sollen sich die Studenten so in Zusammenhalt und Disziplin üben. Ob deutsche Bachelor-Studenten ihren Lernstress so besser bewältigen könnten?

Recycling

Alte Werbebanner, umfunktioniert zur Überdachung von kleinen Geschäften. Gesehen in einem alten Viertel nahe der Siping-Road.

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Wohnen in der Metropole (I): Lilongs

Chinesisch- westliche Arbeiterhäuser

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Einfache Arbeiterhäuser nach dem Vorbild der Industriegebiete Manchesters und Londons schwebten Sir Harry Smith Parkes vor, als er in seiner Amtszeit als britischer Konsul in Shanghai von 1858 bis 1865 mit dem Bau der ersten “Lilong”-Anlang begann. Das Wort steht für “Nachbarschaft“, “long” alleine für “kleine Gasse”. Im Shanghai-Dialekt werden die Bauten auch “Ziling”, “Fischgrätenhäuser”, genannt weil sie so eng aneinander liegen.
Smith Parkes hatte mit dem Bau von Lilongs begonnen, um seine Konzession vor dem Verkommen zu bewahren. Während der Taiping-Revolution waren Tausende Chinesen in die ausländischen Niederlassungen geflohen. Bald investierten auch große Shanghaier Firmen wie Jardine’s und Sassoon in den Bau der neuen Wohnanlagen, der Baustoff Holz wurde durch Backstein ersetzt.
“Lilongs stellen eine “Kreuzung” aus einem westlich städtischen Reihenhaus und einem traditionell chinesischem Wohnhaus mit einem von drei Seiten ummauerten Innenhof dar. Um Sicherheit und Ruhe zu schaffen, wurden die Anlagen durch hohe Mauern oder Ladenzeilen abgeschirmt. Ihre namen haben meist etwas Verheißungsvolles und lassen an Glück, langes Leben, Wohlstand oder Erfolg denken […]. Doch wie bei den meisten Wohnanlagen standen vielfach praktische Überlegungen im Vordergrund. So ergab sich z.B. die Raumbreite aus der Länge des verwendeten Bauholzes. Seit dem späten 19. Jahrhundert wurde vornehmlich importierte Oregon-Kiefer eingesetzt, daher betrug die Breite der Räume in der Regel zwischen 3,65 und 4,20 Meter.[…] Im Lauf der Jahrzehnte veränderten die Lilongs ihr Gesicht. Bei den Anlagen alten Stils, wie sie zwischen den 1870ern und den 1930ern gebaut wurden, vermittelt das Eingangstor, der Shikumen, das Gefühl einer gewissen Privatheit. […] Der Gestaltung des Türsturzes wurde- ähnlich wie bei einem traditionellen Haus der chinesischen Oberschicht- große Sorgfalt entgegengebracht. […] Nach dem 1. Weltkrieg entwickelte sich der Lilong “neuen Stils”. Shikumen fehlen und sind durch Gittertüren ersetzt. […] Auch nach der Gründung der Volksrepublik setzte sich die Lilong-Bauweise fort, nur wurden die Häuser höher, die Baumaterialien änderten sich bis hin zur “sozialistischen Platte”.”(Steffi Schmitt, Shanghai Promenade, Hongkong 2003, S. 71 f.)
Zeitweise machten die Häuser rund 65 Prozent der Shanghaier Bausubstanz aus, in den 40er Jahren lebten mit zwei Millionen die Hälfte aller Shanghaier in Lilongs, in den 80er Jahren waren es zweieinhalb Millionen. Obwohl die Lilongs von außen romantisch anmuten, sind die Wohnbedingungen im Inneren oft schlecht, weil Küche und Bad fehlen und der Wohnraum zu eng ist. Weil kaum eine Anlage unter Denkmalschutz steht, verschwinden die Siedlungen seit den 80er Jahren zunehmend. Die neuen, modernen Wohnblöcke, welche sie ersetzen sollen, befinden sich häufig außerhalb der Stadt.

Mittwoch, 3. September 2008

Exkursion: Lingang New City (II)

Einführender Vortrag im Architektenbüro GMP in Shanghai und unser Rundgang durch die Stadt. Einige Eindrücke...

Exkursion: Lingang New City (I)

Idee und Form oder: Anti-Anting

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Ein ins Wasser fallender Tropfen, um den herum sich konzentrische Wellen bilden - dieses Bild ist das architektonische Leitmotiv für Lingang New City. In der etwa eine Autostunde von Shanghai entfernten Reißbrettstadt sollen einmal bis zu 800. 000 Menschen leben - mehr als doppelt soviel wie ursprünglich geplant. Sie wurde als Hafenstadt zum internationalen Containerhafen Yangshan konzipiert, mit welchem sie durch eine 30 km lange Brücke über das Meer verbunden wird. Erste Anwohner haben sich bereits niedergelassen - obwohl der Großteil der Anlage noch im Bau begriffen ist und über weite Strecken nur Stahlgerüste und tiefe Gräben das Bild prägen.

Wenn eine Stadt den Ehrgeiz demonstriert, mit welchem im Moment in und um Shanghai gebaut wird, dann Lingang New City. Das gesamte Gelände - immerhin 294 km² groß - ist aus dem Nichts auf eigens aufgeschüttetem Meeresgrund entstanden. Der kreisrunde See, der einen Durchmesser von 2,5 km hat, ist dennoch aus Süßwasser: Er wird aus den Flüssen der Umgebung gespeist und soll die Stadt mit Trinkwasser versorgen. Und als attraktives Urlaubsziel für Bootsfahrer und Wasserskiläufer dienen. Die Ufer des Sees sollten ursprünglich von Sandstränden gesäumt werden - doch die Shanghaier Stadtplanung lehnte ab. Stattdessen dienen nun Gehwege aus hellgrauen, fein säuberlich verlegten Steinplatten als Uferpromande. Ob das nicht gefährlich sei mit den ganzen Wegen am Wasser so ganz ohne Geländer, fragt eine der chinesischen Studentinnen. Man könne doch reinfallen. An den metallenen Pfahl eines “Baden-Verboten”- Schildes schmatzt Wasser.

Als wir hier, im Herzen der Stadt unseren Besichtigungsspaziergang beginnen, sind wir nicht die einzigen Touristen. Auch viele Chinesen spazieren am Ufer entlang, die sich interessiert die auf Schautafeln präsentierten Stadtpläne anschauen und eifrig Fotos voneinander machen. Und den als “singende Steine” getarnten Lautsprechern lauschen, welche die Promenade nicht nur mit zuckersüßem chinesischen Pop auch Informationsbeiträge über die Stadt beschallen.
Im Gegensatz zu Anting New Town interessieren sich nicht nur Investoren für die neue Stadt. Schon jetzt organisiert ein Reisebüro Busreisen hierhin. Viele Chinesen kommen bereits jetzt am Wochenende hierher, um sich an der frischen Seeluft vom Smog der Stadt zu erfrischen und im leichten Wind Drachen steigen zu lassen, erzählt man uns. Andere einfach, um die gigantische Baustelle zu besichtigen. Wir machen eine Pause im einzigen Restaurant weit und breit, mit Blick aufs Meer, pardon: Den Kunst-See. Es ist zwei Uhr nachmittags, von hoch oben ertönt plötzlich der Klang von Big Ben. Den fand man für die etwa zehn Meter von uns entfernt stehende große Turmuhr wohl besonders schön.

Im ersten, 2007 fertig gestellten, Wohnviertel beherbergt Lingang New City bereits 80.000 Einwohner. Schon jetzt haben zwei Universitäten ihren Betrieb aufgenommen: Die Marine-Fakultät der Tongji-Universität und eine Hochschule für Fischerei. Von dem riesigen, eben erst fertig gestellten Rathaus wird nun die gesamte Provinz verwaltet. Auch die zunehmend von weißen Platten bedeckten Stahlskelette der riesigen Dachschalen, welche das zukünftige Maritime Museum krönen sollen, gewinnen immer mehr an Form.

Lingang New City ist am Reißbrett des Büros Gerkan, Marg und Partner (GMP) entstanden. Die Hamburger Star-Architekten, welche in Deutschland unter anderem mit den Bau des Berliner Hauptbahnhofs betraut worden waren, hatten sich mit ihrer Idee vor sieben Jahren in einem internationalen Wettbewerb durchsetzen können. Bereits 2003 wurden ihre ursprünglichen Pläne erweitert, um mehr Einwohnern Platz zu bieten.
Ob die Verantwortung für so viele Menschen es einen nicht mulmig werden lasse? Der Architekt Alexander Schober, Mitarbeiter des GMP-Büros in Shanghai, schüttelt leicht den Kopf. Schließlich kann man nichts voraussehen, sondern nur auf die Umsetzung der Gesamt-Idee vor Ort achten.
Leider laufe in Detail nicht immer alles so, wie man es sich wünsche, erzählt er. “Die neuesten Sachen, die jetzt gebaut werden, entsprechen nicht unserem Plan.“ Das betreffe die Qualität der Materialien. Details, wie Brücken, die zu niedrig ausfallen und deren Flucht nicht gerade mit einer Häuserfront dahinter abschließt. Oder ganze Viertel, die ursprünglich nach dem Vorbild von Berliner Kasernenbauten mit einem mittigen Innenhof für alle errichtet werden sollten. Blickt man jede auf ein aktuelles Stadtmodell, lassen sich stattdessen nur jene durch anonyme Grünflächen getrennte, parallel verlaufende Hochhäuserreihen erkennen, die jedem Bürgermeister in Deutschland inzwischen Bauchschmerzen bereiten. Aber da sei derzeit nichts zu machen. Die Nord-Süd-Ausrichtung der Wohnungen ist ein Muss, ost-westlich ausgerichtete Wohnungen würde niemand kaufen, fürchten die Chinesen. Also können die Zeilen nur in langen Blöcken hintereinander stehen.

Wir schließen unseren Ausflug mit einem Panorama-Blick vom Dach des Rathaustums ab. Noch schweifen die Augen über viel unerschlossenes Bauland, braune und grüne Ebenen, einsame Straßen und halb hochgezogene Gebäude. Selbst mit viel Fantasie ist es noch schwer, sich vorzustellen, wie Stadt einmal genau aussehen wird im Jahr 2020, wenn sie fertig sein soll. Im Gegensatz zu Anting New Town hat man jedoch das vage Gefühl, dass ihre Verwirklichung könnte. Wie Anting New Town ist Lingang eine Reißbrettstadt, von deutscher Hand entworfen. Anders als in Anting wird jedoch nicht einfach ein äußerer europäischer Formenkanon kopiert, sondern vielmehr die Idee einer idealen Stadt ganzheitlich umgesetzt. So formuliert auch das Architektenbüro GMP selbst: “Unser Konzept von Lingang New City greift die Ideale der tradierten europäischen Stadt auf.”

Dienstag, 2. September 2008

Seminar: Architektur als Menschenformungsprogramm

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Die moderne Architektur, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Durchbruch bahnte, leitete mehr als eine rein geschmackliche Wende ein: In ihrem Formvokabular der Sachlichkeit, Sauberkeit und klaren Linien fand ein neues Menschenbild seinen Ausdruck, welches sowohl dem Spießbürgertum als auch der Dekadenz seiner Zeit eine klare Absage erteilte. Weder individuelle Einrichtungsgegenstände noch weit ausladende Reifröcke fanden in den neuen minimalistischen Inneneinrichtungen Platz, in denen gar Bilder als "Störung" der Wand, die nach japanischem Vorbild weiß bleiben sollte, empfunden wurden.
Sachlich, so stellten sich die Architekten auch den neuen Bürger vor, der ihre Werke bewohnen sollte, wie es aus einem Zitat Bruno Tauts hervorgeht: "Das Innere des Hauses, das Leben seiner Bewohner, muss [...] in Sauberkeit und Klarheit verlaufen, sonst kann es nie zu einer wirklichen Architektur kommen."
Eine aktuelle Frage, die sich aus dem Seminar ergab:
Welches Menschenbild verkörpern die Wolkenkratzer Shanghais?

Alltag: Busfahren auf Chinesisch

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“Viele Chinesen sind Chaosmagneten. Wo das Straßenbauamt in anderen Ländern Mittelstreifen malt, stellt es in Peking Zäune auf- die einzige Möglichkeit, die motorisierten Anarchisten auf ihrer Spur zu halten”, so schreibt Kai Strittmatter in seiner “Gebrauchsanleitung für China“. Selbstverständlich sind wir hier, um uns unbeeinflusst solch klischeeorientierter Deskriptionen ein eigenes Bild zu machen. Auch, wenn letztendlich dann doch alles ist, wie es im Reiseführer steht.
So unser Busfahrer, welcher samtens blümchenmusterplüschgepolstertertem Reisebus bestellt war, um uns von der Universität aus nach Anting New Town zu fahren. Abgesehen von einigen unsanften Bremsmanövern machte er das wunderbar- bis die Stadt in Sicht war. Als wir deren Höhe erreicht hatten, blieb er nämlich einfach weiter auf die Autobahn. Immerhin war die Handlung vage begründet: Er wollte noch einen Führer abholen, der längst abgesprungen war.

busstecktfest

Auf der Rückfahrt nach Shanghai fuhren wir nicht zu weit. Was allerdings daran lag, dass unser Fahrer unter einer für unseren Bus zu niedrigen Brücke hindurchwollte. Beziehungsweise hindurchführen wollte: Nach wenigen Metern, gefühlten 20 Sekunden ohrenbetäubender Kratzgeräusche, begleitet von ersten Dellen im Dach, steckten wir fest.
Ruhe bewahren. Dachten wir. Vielleicht die Luft aus den Ventilen lassen. Problemlösung auf chinesische Art: Mitten im Treiben des Stadtverkehrs nach hinten zurücksetzen bis man schon fast wieder unter dem Brückeneingang weg ist - und dann, alle guten und gut gemeinten Ratschläge ignorierend, abermals kräftig nach vorne setzen.
Nach zwanzig Minuten gaben wir auf und stiegen aus, zum Glück steckte der Bus wenigstens in der Nähe des Restaurants fest, in dem wir reserviert hatten. Als die ersten von uns nach zwei Stunden zurückkehrten steckte der Bus immer noch fest, trotz Luft aus den Ventilen lassen. Die entscheidende Hilfe kam später von Frau Kang und einigen Studentinnen, die dem Busfahrer nicht nur Essen mitbrachten, sondern sich auch wieder gesammelt in den Bus hineinsetzten. Nun, endlich, war er niedrig genug, um unter der Brücke wegzukommen.

Denk ich an Deutschland....

Wir selbst überprüfen seit einem Tag fleißig, ob unsere Vorstellungen von China mit der Realität übereinstimmen.
Aber was denken Chinesen eigentlich, wenn sie "Deutschland" hören? Land der Ideen, Goethe... oder doch nur Sissi und Oktoberfest?
Wir haben uns umgehört.

Denk ich an Deutschland, denk ich an...

Montag, 1. September 2008

Exkursion: Anting New Town (II)

Einige Eindrücke...

Exkursion: Anting New Town (I)

Deutsche Vorstadt made in China

anting

Anting New Town heißt die von dem Frankfurter Architektenbüro Albert Speer und Partner neu konzipierte Wohnort, in dem bis zu 80.000 Bewohner Platz finden sollen und dessen Gebäude nach dem Vorbild einer “typisch deutschen” mittelalterlichen Stadt kreisförmig um einen zentralen Platz organisiert wurden. Im Detail hat der Entwurf jedoch nichts mit Kopfsteinplaster und Fachwerkromantik gemein sondern wartet vielmehr mit der Atmosphäre eines vorstädtischen Neubaugebietes auf: Man erblickt breite, von niedrigen Bordsteinen gesäumte Straßen, gerahmt von noch jungen, akkurat gezüchteten Bäumchen und Vorgärten, soweit das Auge reicht. Die von Giebeldächern gekrönten Häuserreihen tragen glatte, bunte Fassaden zur Schau.
Damit es nicht zu klinisch wird, wurden Inseln typisch deutscher Heimeligkeit geschaffen. Oder das, was man dafür hält: Eine “deutsche” Bäckerei verkauft “Vollcornbread”, malerisch gelegen in einer der vier Straßen, welche direkt auf ein rund drei Meter hohes Goethe und Schiller-Denkmal zuführen. Auf dem Platz davor herrscht jedoch nur wenig Leben.
Durch die matten Glasscheiben vieler anderer Ladenlokale lassen sich nur nackte Betonwände und heraushängende Kabel ausmachen. Sie stehen noch leer, ebenso wie viele der Wohnhäuser.
Dass Anting New Town ein wenig einer Geisterstadt gleicht, liegt daran, dass zahlreiche Gebäude von Spekulanten erworben wurden. Wieviel der rund 60 km² Wohnfläche bereits tatsächlich verkauft sind, wollte man uns bei einer halbstündigen Präsentation des Modellbaus in der „Weimar Villa“ nicht verraten. Die Stadt sei ja schließlich sehr groß, da verliere man die Übersicht, so die Antwort auf unsere Frage. Schulen und Kindergärten gibt es bisher jedenfalls kaum. Auch der S-Bahn-Anschluss, der die Stadt einmal mit Shanghai verbinden soll, fehlt noch.
Dass bisher nur ein Teil der Wohnungen verkauft ist, mag aber nicht nur an der erst im Ansatz vorhandenen Infrastruktur liegen sondern auch wirtschaftliche Gründe haben: Als wir eines der mit Doppelglasfenstern ausgestatteten Häuser besichtigen, entpuppt sich das, was als “typisch deutsch” gehandelt wird, als Mischung von bunten Kronleuchtern, großzügigen Bädern, glänzend polierten Einbaumöbeln und kubischen Designerssofas: Viel Glas, viel Licht, viel Platz.
Für Chinesen werden diese Wohnungen kaum erschwinglich sein: Sie sind vor allem für Ausländer gedacht, welche in der Autostadt Anting arbeiten, dem Standort von Shanghai Volkswagen nahe dessen sich Chinas erste Formel-Eins-Strecke erstreckt. Die Bewohner von Anting New Town, so sie denn einmal einziehen, werden reich sein, weit entfernt vom chinesischen Mittelstand. Davon zeugen schon jetzt die Überwachungskameras und zahlreichen Wachposten, die an den vielen wohlbehüteten Durchfahrtstoren Präsenz zeigen.

Begrüßung und Eröffnungsvortrag

Erste Eindrücke beider Seiten:
Die Begrüßung aller Teilnehmer durch Dr. Sven Sappelt. Der erste Vortrag der Summer School: "Zur Selbst - und Fremdwahrnehmung des Chinesischen und des Deutschen: Konzepte von Funktion und Ästhetik und die hybride (?) Idee der Anting New Town", gehalten von Prof. Dr. Stefan Kramer. Antworten aus chinesischer und aus deutscher Sicht in Form zweier weiterer Vorträge lieferten im Anschluss Li Yiting und Muriel Schindler.

Der Startschuss...

anfang
20 Teilnehmerinnen aus China, acht Referenten und Referentinnen aus Deutschland, 13 Tage, eine Stadt. Im German Department der Tongji Universität hat gestern die Summer School Shanghai begonnen.
Doch wir sollten den Tag nicht allein im Universitätsgebäude verbringen: Nach einem Eröffnungsvortrag von Prof. Dr. Stefan Kramer und Co-Vorträgen von Li Yiting und Muriel Schindler haben wir gleich unsere erste Busreise angetreten, um Shanghais Umgebung kennen zu lernen. Genauer: Die von deutschen Architekten konzipierte Anting New Town, eine Sattelitenstadt eine halbe Busstunde von Shanghai entfernt gelegen, welche in ihrem kreisförmigen Grundriss und den Hausformen einer "typisch deutschen Stadt" nachempfunden ist und in naher Zukunft vor allem Mitarbeitern der dort ansässigen Automobilindustrie als Wohnsitz dienen soll.

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