Samstag, 13. September 2008

Kurze Pause

Viele Chinesen sind wahre Meister des Powernappings. Kein Ort scheint zu laut oder zu unbequem, um kurz Energie zu tanken. Wer in der dauernden Großtadthektik Ruhe finden will, muss eben flexibel sein...

Das Shanghai Propaganda Poster Art Centre

Es gibt in Shanghai ein Museum, dessen Sammlung einzigartig und das unter Chinesen dennoch nahezu unbekannt ist. Ein Museum, dessen Nummer nicht im Telefonbuch steht und das nur von Ausländern besucht wird, die in ihrem Reiseführer davon gelesen haben. Das Propaganda Poster Art Centre liegt geradezu versteckt im Keller eines gewöhnlichen Wohnhausblockes in der Huashan Lu. Ein Besuch.

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Das erste Mal fahre ich mit dem Fahrrad am Museum vorbei - weil außen, zur Straße hin, kein Schild zu sehen ist, das auf eine Ausstellung hindeuten würde. Nun da ich, geleitet durch die im Reiseführer verzeichnete Hausnummer, nach einem zweiten Such-Versuch endlich vor dem nur halb geöffneten Schiebetor aus weiß lackiertem Gitterstäben stehe und fragend zum Wachtpostenhäuschen blicke, tritt der Aufpasser auf mich zu. “Museum?” Ich nicke. Lächelnd überreicht er mir eine Visitenkarte, nach chinesischer Art mit beiden Händen, zwischen Daumen und Zeigefinger, die Daumen nach oben. Er bedeutet mir, sie zu drehen: Auf der Rückseite findet sich ein vager Plan, auf dem die hinter dem Gittertor liegenden Hochhausblöcke verzeichnet sein sollen. Obwohl sich die Anordnung mitnichten rekonstruieren lässt, folge ich dankbar dem Fingerzeig des Wachtmanns.
Hier soll also ein Museum sein? Ich muss noch einmal fragen. Schließlich lande ich im auf der Visitenkarte angekreuzten Gebäudes, ein kleines Schild neben dem alten Aufzug verweist auf das Museum. Und tatsächlich: Als sich die Fahrstuhltüren öffnen, lächelt mir Mao von einem Werbeplakat entgegen.
In der etwa 30 qm großen Ausstellungshalle ist nur ein Bruchteil der über 4.000 Plakate zu sehen, die der Besitzer Yang Pei Ming seit rund 20 Jahren sammelt. Er selbst befindet sich gerade in New York, um eine Ausstellung vorzubereiten. Das Interesse an seiner einzigartigen Sammlung ist im Ausland groß, die Preise für die Poster steigen. Nur in der eigenen Heimat will niemand etwas davon wissen.

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Ich schaue mich um. Rund 100 Exponate sollen einen repräsentativen Querschnitt durch dreißig Jahre chinesischer Propagandageschichte bilden, die jüngsten sind von 1979. In ihrer Bildsprache sind die Plakate europäischen oder russischen erstaunlich ähnlich: Eine je nach Jahrzehnt mal holzschnittartige, mal pastellig-verschwommene oder schnörkelhafte Bildsprache, heroisch von unten eingefangene Soldatengesichter, böse Feindesfratzen, glückliche Arbeiter, Familien, welche die Mao-Bibel studieren. Dass viele Klischees sich genausogut auf westlichen Propagandabildern finden könnten, ist kein Zufall: Viele chinesische Künstler hatten zeitweise im Westen studiert, und bei ihrer Rückkehr die dort erlernte Bildsprache nach China mitgebracht.

Jede Dekade hat nicht nur ihren eigenen Stil, sondern auch ihre typischen Sujets. Von 1949 bis 1953 stehen die Gründung der Volksrepublik China, die ersten Reformen wie das neue Heiratsgesetz und der Korea-Krieg im Mittelpunkt. Insbesondere die USA und Großbritannien werden dämonisiert: Als repressive Kolonialherren, als böse Spione mit Melonenhüten, als Papier- Tiger, den es zu besiegen gilt. Ab 1967 wandeln sich nicht nur die Motive, sondern auch die Materialität der Poster. Viele sind nun auf einem gelblichen Papier schlechter Qualität gedruckt, viele der cartoonähnlichen Motive wurden von Arbeitern und Bauern gestaltet. Es ist die Zeit, in der jeder zehnte chinesische Intellektuelle sich dem Verdacht des Rechtsextremismus erwehren muss. Von 1963 bis 1965 bildet neben der politischen Erziehung des Volkes vor allem der Vietnamkrieg das hauptsächliche Thema der Plakate. Mit dem Beginn der Kulturrevolution ab den 1966er Jahren erlebten die Propagandaposter durch Produktionen von Volkskünstlern und die Studenten an Kunstakademien einen neuen Aufschwung: Unzählige Holzschnitte zeigen Mao als rote Sonne, die auf das Volk hinab scheint, als Mann des Volkes, als Führer. Von 1972 bis 1976 schlagen die Poster dann leisere Töne an: Sie regen vor allem zum Studium des Marxismus und der Mao-Bibel an.

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Das Museum ist auf ausländische Besucher eingestimmt: Alle erklärenden Tafeln sind ausnahmslos in Englisch, auf handgeschriebenen Zetteln sind Übersetzungen der chinesischen Schriftzeichen zu jedem einzelnen Plakat vermerkt. “Chinesen kommen hier nicht hin“, erklärt mir ein Mitarbeiter des Museums. Das Museum stehe nicht im Telefonbuch und sei unter Shanghaiern wenig bekannt. Dafür finde es sich in jedem Reiseführer. Mehr will er nicht sagen. Gegenüber der Ausstellungshalle, am anderen Ende des Flures, findet sich ein auf spendierfreudige Touristen ausgerichteter Museumsshop. Einige der kleinen Poster, die hier für mindestens 1000 Yuan verkauft werden, kann man auf Shanghaier Flohmärkten auch für 50 Yuan finden. Des weiteren gibt es alte Ansteckpins mit dem konterfei Maos vor rotem Grund, 1976er Mao-Bibeln in diversen Sprachen, knautschbare Mao-Büsten aus graugelbem Gummi, kommunistische Porzellanteller und Postkarten. Man weiß nicht so recht, ob das Ganze nun kritisch- distanzierend, ironisch oder ehrfurchtsvoll gemeint ist. Vielleicht steckt auch einfach nur Geschäftssinn dahinter. Die Artikel würden sich blendend verkaufen, gerade heute wieder, erzählt mir der Mitarbeiter fröhlich, der nun am Tisch eines kleinen Nebenraumes 100 Yuan-Scheine zählt. “Viele Ausländer, gutes Geschäft heute.” Er lacht.

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Ein Packpacker-Pärchen hat den Shop betreten, beide Ende zwanzig, er Australier, sie aus Neuseeland. Sie machen gerade einen “world trip”, sind durch ihren lonely planet auf das Museum aufmerksam geworden und finden die Plakate “totally crazy“ oder auch “Cool”. Nach einigem Stöbern bezahlt er ohne zu verhandeln rund 2500 Yuan für ein Bild glücklicher Arbeiter. Das macht sich sicher mal gut in der heimischen WG-Küche, vorausgesetzt es überlebt die weitere Reise über Russland nach Europa.

Ich blicke mich noch einmal im Laden um, in dem es mindestens ebenso viele Plakate gibt wie in der Ausstellung. An einer der Wände lehnt ein gerahmter Druck von 1979. Vor der Skyline einer Großstadt erhebt sich in seiner Mitte das Emblem der kommunistischen Partei, links und rechts umgeben von Raketen, Satelliten, großen Schiffen und Hochgeschwindigkeitszügen als Boten des Fortschritts. Die Botschaft des Plakates erschient mir gar nicht so fern von jener des riesigen vergoldeten Modells der Stadt Shanghai, das sich im die heute, knapp dreißig Jahre später, im Eingangsbereich des Shanghai Urban Planning Exhibition Centre auf einem riesigen runden Sockel dreht.

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